Der neue Sonntagschrist - oder von Berlin lernen von Julian Adrat
Die »Paris Bar« in Berlin gilt als Institution. Wie in einer Kirche gibt es hier keine freie Ecke, die Wände hängen voll mit Bildern, Originalkunst in Petersburger Hängung. Nur dass es in einer Kirche keine pornografische Kunst gibt. Selbst die Fenster sind beklebt mit Postern, die von vergangenen Ausstellungen zeugen.
Mitten drin, ohne Lehne, sitzt eine junge Frau auf einem Hocker hinter einem Pult. Zu ihr kommen die Kellner mit den Wünschen der Gäste, die sie eintippt. Die »Paris Bar« ist keine Bar, sie ist ein Restaurant. Eng an eng schlemmen dort Politiker, Schauspieler, Lebemänner und Lebefrauen, unweit vom Kuhdamm, im alten Berliner Westen.
Es war das erste Mal, dass ich seit Wegfall der Regeln wieder dort war. Ich glaube, ich war während der gesamten Pandemie ein einziges Mal dort. In der lockdownfreien und regelarmen Zeit, die man früher Sommer nannte. Im Innenbereich saßen etwa 80 Leute, es war brechend voll. 80 Leute sind es an einem durchschnittlichen Sonntag auch in meiner Gemeinde Herz-Jesu auf dem Prenzlauer Berg. In der Kirche, in die die Paris Bar zehnmal hineinpasst, tragen alle Maske, in der Paris Bar tat das niemand. Um genau zu sein: ein Mann mit Maske lief an unserem Tisch vorbei. Er war auf dem Weg zum Klo. Sonst habe ich niemanden gesehen, der eine Maske trug, auch nicht auf dem Weg zum Klo.
Im dunklen Glas des Ecktischs, wo wir saßen, spiegelt sich der pornografische Akt an der Deckenecke. Man erkennt das nicht direkt, man muss sozusagen den Fokus weiten, neben dem Teller in die „Tiefe“ schauen. Ein ekstatischer, sehr feuchter Geschlechtsakt im Comic-Stil. Nicht per se pornografisch, der Fokus liegt auf der Ekstase der Frau, ihrer völligen lustvollen Unterwerfung unter den Mann.
In Herz Jesu ist die gesamte Deckenkuppel von einer Darstellung der Anbetung des Lammes eingenommen. Über der Apsis breitet ein überlebensgroßer Jesus milde lächelnd die Arme aus. In der Paris Bar ist das markanteste Bild ein riesiges Gesichts-Portrait von Yves Saint Laurent. Sein Grinsen ist so breit, dass man ihn beim Googeln gar nicht so leicht wiedererkennt.
Bisher hatte ich an das Vorurteil geglaubt, dass es gerade die Reichen und Schönen seien, die besondere Angst vor Krankheiten haben. Modeschöpfer mit Sauberkeitsfimmel. Sänger mit Gesundheitsneurosen… Wer sich im Kampf um das tägliche Brot befindet, hat keine Kapazität, sich um die eigene Gesundheit allzu viel Gedanken zu machen. Für den Reichen dagegen stellt es letztlich das einzige Problem dar, dass er nicht lösen kann. Milliardäre werden vom Krebs genauso gnadenlos dahingerafft wie die Ärmsten der Gesellschaft. Gläubige dagegen galten die Geschichte über eher als mutig, wenn es um Infektionsgefahr ging. Sollte sich das ändern, ändert sich gerade ziemlich viel, fürchte ich.
Je mehr Geld, je mehr Profanität, desto weniger Angst vor Krankheit, heißt es dann. Je näher am Tabernakel, desto besorgter um die Gesundheit. Niemand trägt so eisern FFP2 wie unsere Messdiener. Man denke auch an die Partys von Boris Johnson. Je näher der Macht, desto weniger Übertragungsangst? Dass hier irgendwas nicht zusammenpasst, ist eindeutig.
Aber es ist schwierig diesem gutgemeinten Widerspruch zu entkommen, ganz offensichtlich... Ich habe meine Schuldigkeit zur Pandemiebekämpfung getan, denkt sich der Sonntagschrist, zieht die Maske runter und verbringt maskenfrei den Sonntagmittag beim stickigen Brunch... Virtue signalling ist ein fast schon veralteter Begriff. Aber der Sonntagschrist, der in der Kirche Maske trägt, ist halt ein bisschen retro.
Wenn ich meinen Blick über die Gläubigen in meiner Gemeinde gleiten lasse, frage ich mich: Geht niemand von euch ins Restaurant? Und in der Paris Bar habe ich mich gefragt: Wer von euch geht in die Kirche? Von Gregor Gysi, der auch da war, weiß ich, dass er kein Kirchgänger ist. Die Chancen stehen geschätzt eins zu tausend, dass die junge Frau, die das Pult besetzt, die Kirche besucht. In der Paris Bar ist sie Hohepriesterin und archaisches Opferlamm in einem. Mit unendlich gelangweilter Miene lässt sie ihren Blick schweifen über die Feiernden.
Lebemänner (und Frauen), die in eine Kirche stolpern sollten, sind gewiss nicht nach der Suche nach einem Safety-first-Kult. Weder ihre Ministranten (Kellner) noch ihr Priester (die junge Frau hinter dem Pult) tragen Masken. Sie suchen den Gott, der Wasser in Wein verwandelt.
Gregor Gysi ist übrigens 74 Jahre alt. Atheist. Mitglied der Linken. Und er hat keine Angst.